Herdenmoral oder das Pathos der Vornehmheit1)
In einem seiner letzten Bücher (Jenseits von Gut und Böse) beschäftigt sich Nietzsche mit der Vornehmheit und widmet ihr auch einen ganzen Katalog perspektivischer Eigenschaften. Sein grundlegendes Resümee lautet dabei:
„Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich. –“
Nietzsche zufolge entstehen Werte und Forderungen für den vornehmen Menschen aus einem inneren Reichtum, die ihn von der Meinung anderer weitestgehend befreit.
„Die vornehme Art Mensch fühlt sich als werthbestimmend, sie hat nicht nöthig, sich
gutheissen zu lassen, sie urtheilt 'was mir schädlich ist das ist an sich schädlich', sie
weiß sich als Das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist wertheschaffend.“
Der Vornehme ist jemand, der sich den Dingen stellt, ohne sofort eine Lösung anbieten zu müssen, der es wagt, sich dem schlechten Willen Anderer auszusetzen.
„Vornehm ist das Jasagen, Lieben, der Umgang mit dem, den ich bejahen und lieben kann. Der Vornehme weiß ‚nicht zu leben, ohne zu verehren‘. Er vermag nicht Nein zu sagen, wo er nicht zuerst bejaht“.
Der Vornehme glaubt seinen eigenen Gesetzen. Er ist nicht darauf angewiesen, auf jeden Reiz wie automatisch zu reagieren.
Gleichgültig woher der Reiz kommt oder von wem der Reiz ausgeht, der Starke reagiert auf fremde Reize mit Gelassenheit, er „prüft den Reiz, der herankommt, er ist fern davon, ihm entgegenzugehen.“ Eine solche Haltung ist nicht darauf angewiesen, die unausgesprochenen Erwartungen anderer zu bedienen, um eine möglichst gute Meinung über sich zu erwirken. Der Vornehme lehnt es ab, mit den Wünschen anderer zu verschmelzen. Nietzsche umschreibt eine solche Haltung der Vornehmheit mit dem Begriff ‚Pathos der Distanz‘. Im Pathos der Distanz erhebt sich der Vornehme und Starke zu sich selbst, er setzt seine Werte, ohne sich des Rückhaltes der Gemeinschaft zu versichern. Ziel des Vornehmen ist es, aus „sich eine ganze Person [zu] machen und in Allem, was man thut, deren höchstes Wohl in’s Auge [zu] fassen.
Die Schwachen dagegen versammeln sich „unter dem Schutz täuschender moralischer Etikette“ zu einer Herdentiermoral, aus der keiner herausragt und die jeden Zusammenhang zwischen Erkennen und persönlichem Interesse insofern zunichtemacht, als sie ihre alle gleichschaltende Herdenmoral zum obersten Prinzip erhebt. Diese Menschen sind nicht fähig, nach ihren eigenen Gesetzen zu leben, und erfahren ihre Identität, ihre Werte und Wertsetzungen ausschließlich über die Herde. „Seid ihr zu schwach, euch selber Gesetze zu geben“, schreibt Nietzsche zynisch, „so soll ein Tyrann auf euch sein Joch legen und sagen: ‚gehorcht, knirscht und gehorcht‘ – und alles Gute und Böse soll im Gehorsam gegen ihn ertrinken.“
Die Übereinstimmung mit möglichst vielen einer Gemeinschaft zeugt für Nietzsche von einem schlechten Geschmack, da sie die eigene Wertsetzung verflachen lässt. Ein Gemeingut lehnt Nietzsche kategorisch ab, weil es einen Widerspruch in sich darstellt: „was gemein sein kann hat immer nur wenig Wert“.
Das Pathos der Distanz dagegen entbindet den einzelnen Menschen gleichsam von sich selbst und seinen drängenden Impulsen. Es erschafft einen Spielraum, in dem der Vornehme auch seine egoistischen Züge nicht verschämt verschleiern muss, sondern dazu „befähigt“ (!) wird, diese „ohne ein Gefühl von Härte Zwang“ als „Urgesetz der Dinge“ zu leben.
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Die Dissertation ist unter dem Link https://voado.uni-vechta.de/handle/21.11106/92 (Stand: 15.9.2018) einsehbar.