20_09

Ein bisschen Philosophie gefällig?
Nietzsches Vorstellung vom Individuum


Die in den westlichen Gesellschaften breit angelegte Wertschätzung des Individuums teilte der Philosoph Friedrich Nietzsche nicht. Die Vorstellung, dass der Mensch als ein freies und eigenständiges Subjekt denkt und handelt, wird von Nietzsche kritisch gesehen. So ungewöhnlich und geradezu provokant Nietzsches Psychologie dem heutigen (post-) modernen Menschen immer auch (noch) erscheinen mag: Für das Verstehen des Begriffs einer 'Lehrer-Haltung' ist die Psychologie Nietzsches schon deswegen von wesentlicher Bedeutung, da sich sein psychologisch-pädagogischer Blick eben nicht, wie in der heutigen Pädagogik noch allgemein üblich, allein auf das Individuum fixiert.
Im Folgenden möchte ich dazu den philosophische Hintergrund von Nietzsches 'Subjektkritik' in groben Zügen darstellen und im Anschluss daran auf einige mögliche Folgerungen für das pädagogische Denken aufmerksam machen.

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Die Illusion vom freien Willen, oder: Der Subjektbegriff als Konstruktion des Denkens1)
Nietzsche verwendet Begriffe wie Subjekt, Ich, Individuum, oder Person (seltener auch 'Seele') in einem sehr weiten Sinne und oftmals synonym. Allerdings unterscheidet Nietzsche sehr genau zwischen dem Subjekt und dem Subjektgefühl. Was sich uns Menschen als freier und einheitlicher Wille darstellt, ist Nietzsche zufolge kein einheitliches Wesen, sondern das Ergebnis eines Kampfes höchst unterschiedlicher Kräfte und Triebe. Einen Menschen als ‚Individuum‘, als eine 'unteilbare Einheit', gibt es bei Nietzsche nicht. Vielmehr sieht Nietzsche das Subjekt selber in einer Reihe mit dem Willen oder dem Bewusstsein. Jede dieser Kategorien umfasst eine Vielzahl an Strömungen und Prozessen, die mit- und untereinander in einem beständigen im Kampf liegen. Von diesen spannungsgeladenen Prozessen erfahren wir als Menschen in der Regel nur wenig. Nietzsche vermutet, dass der Mensch die Intensität dieser Kräfte wie "wie Nähe und Ferne" erlebt und sich dabei als "eine Landschaft" auslegt, was in Wahrheit eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Strömungen und Kräfte beinhaltet. Das Ergebnis dieser verborgenen Trieb- und Kräftemechanik wird vom Menschen schließlich als eine dem eigenen Wollen entsprungene Entscheidung interpretiert.
Mit dieser Erkenntnis rüttelt Nietzsche an einer gängigen Vorstellung eines vom Ich ausgehenden freien Denkens und Wollens. Descartes berühmtes 'Cogito ergo sum' ('Ich denke, also bin ich') beruht Nietzsche zufolge auf einem Irrtum, setzt doch Descartes hier voraus, "daß, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, 'das denkt'…". Eine solche Konstruktion ist nach Nietzsche eine Fiktion, da hier vorausgesetzt wird, dass hinter dem Denken ein Instanz existiert, die diesen Denkprozess initiiert und steuert. Aber steuert der Mensch seine Gedanken tatsächlich selber? Oder verhält es nicht vielmehr so, dass er für sich genommen gar nicht selber denkt, sondern dessen Gedanken in weiten Teilen ein Eigenleben führen, ohne dass man als Mensch selber einen direkten Einfluss darauf hat? "'Es wird gedacht: folglich giebt es Denkendes': darauf läuft die argumentatio des Cartesius hinaus. Aber das heißt, unsern Glauben an den Substanzbegriff schon als 'wahr a priori' ansetzen…"

Es gibt keinen Blitz der leuchtet
Mit diesen ‚Glauben an den Substanzbegriff‘ lenkt Nietzsche dem Blick auf die vermutlich gängige Meinung, dass sich hinter jedem Tun grundsätzlich einen Täter verbirgt, der dieses Tun steuert. Sagt jemand beispielsweise, dieser oder jener 'Fluss fließe sehr schnell', dann impliziert seine Aussage auch ungewollt das Bild, als ob hinter dem Fließen noch einen Täter (nämlich der 'Fluss') existiere, der sich gleichsam für ein 'schnelleres Fließen' entschieden hat und dieses Fließen vorantreibt.
Eine solche Instanz aber existiert nicht, sondern wurde der menschlichen Grammatik hinzu erdichtet. Ähnlich verhält es sich mit einem Blitz, der leuchtet. Auch hier wird eine Instanz im Hintergrund angenommen, die das Leuchten steuert. "Wenn ich sage 'der Blitz leuchtet', so habe ich das Leuchten einmal als Thätigkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponirt, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr bleibt, ist und nicht wird." Es existiert weder hinter dem Fließen noch hinter dem Leuchten eine höhere Instanz, die dieses 'Tun' in irgendeiner Weise bewirkt oder steuert. Es gibt kein Sein hinter dem Tun. Goethe drückte es einmal ähnlich aus, wenn er meinte: "Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre".

Der Mensch als Nicht-Individuum
Ähnlich verhält es sich nach Nietzsche mit den Denkprozessen des Menschen. Wenn es heißt, der Mensch denke, dann lenkt eine solche Formulierung den Blick auf ein freies und unabhängiges Subjekt, dass sich hinter dem Denken diese Gedanken gleichsam steuert. Eine solche Konstruktion aber gehört Nietzsche zufolge in das Reich der Fiktion. Es gibt Nietzsche zufolge auf das Ganze gesehen kein unmittelbares 'Ich denke'. Es existiert lediglich ein 'Denken'.
Ein Subjekt, das annimmt, der individuelle und unabhängige Initiator seiner Gedanken zu sein konstruiert eine Wirklichkeit, die es nicht gibt. Schon die Annahme des Menschen, sich selbst zu kennen, ist nach Nietzsche ein grober Fehlschluss und führt dazu, dass sich der Mensch größer macht, als er in Wirklichkeit ist.
"Der größte Theil unseres Wesens", so Nietzsche, "ist uns unbekannt. Trotzdem lieben wir uns, reden als von etwas ganz Bekanntem, auf Grund von ein wenig Gedächtnis. Wir haben ein Phantom vom 'Ich' im Kopfe, das uns vielfach bestimmt."
Genau genommen 'kleben' wir immer ein wenig (oder ein wenig mehr) an unserer eigenen Ich-Vorstellung und verteidigen diese, wo immer wir auf eine mögliche Infragestellung treffen. Dieses 'Kleben am eigenen Ich' aber führt schließlich auch dazu, dass sich der einzelne nicht nur als ausschließlicher Verursacher seiner Gedanken und Absichten erlebt, sondern darüber hinaus auch alle jene Strömungen konsequent ausspart, in denen er - ohne es zu merken - ebenfalls eingebunden ist und die jeden Augenblick aufs Neue bereichern und zu neuen Spielräumen führen könnten.
"Es ist der Glaube an das (...) Denkende als das einzig Wirkende – an den Willen, die Absicht – daß alles Geschehn ein Thun sei, daß alles Thun einen Thäter voraussetze". Nietzsche geht davon aus, dass die gesamte menschliche Denkstruktur von diesem Täter-Tun-Prinzip durchwoben ist. Der Glaube an das Subjekt als wirkendes Wesen aber führt am Ende auch zu dem Trugschluss, der Initiator und Steuerer aller Prozesse an sich zu sein.

Schule in einer Welt des Werdens
Nietzsches Philosophie beruht auf einem Weltbild, in dem die Existenz des Individuums mit einer gängigen Vorstellung von Individualität oder individueller Freiheit wenig zu tun hat. Weder die Träume, noch die eigenen Gedanken, noch die eigenen Gefühle sind unmittelbar von einem Ich bewirkt, sondern entstehen nach ihrer eigenen Logik. Sie sind nicht kontrollierbar und führen unter den Bedingungen der menschlichen Existenz eine Art Eigenleben. Das Subjekt selber stellt gleichsam nur die Bühne dar, auf der die spannungsgeladenen Kämpfe zur Aufführung gebracht werden. Nietzsche macht darauf aufmerksam, dass es nicht das Subjekt ist, das denkt, sondern dass das Denken so etwas wie ein Subjektgefühl überhaupt erst erschafft. Den Gedanken einer wirklichen 'individuellen Freiheit', wie sie von den meisten Menschen gedacht wird, lehnt Nietzsche ab.
Für den Lehrberuf könnte dies bedeuten, die Absichten und Wirkungen eines Lehrers in einem bestimmten Maße zu relativieren. Wenn ein Ich als unteilbare Einheit 'an sich' nicht existiert, sondern nur eine Vielzahl von Strömungen und Prozessen, dann ist auch jede pädagogische Absicht eines Lehrers nicht die Ursache oder der Beginn einer neuen Handlung, sondern bereits Teil eines Prozesses, in dem die Person des Lehrer mit eingebunden ist. Eine pädagogische Handlung kann aus dieser Perspektive nicht als Anstoß zu einem neuen Handlungsprozess verstanden werden, da sie immer auch bereits Ergebnis eines anderen Prozesses ist. Bereits die innere Absicht eines Lehrers zu einer neuen Handlung ist nicht allein der Beginn, sondern immer zugleich auch Folge anderer Prozesse.
Versteht ein Lehrer seine eigenen Absichten und sein Denken allein als Ausgangspunkt seines Wirkens, überhöht er nicht nur sich und seine Wollen über das Maß hinaus, sondern sieht sich als Initiator aller weiteren Prozesse, für deren erfolgreichen Verlauf nur er selbst verantwortlich ist. Er ist dann auch gleichsam verpflichtet, den gesamten Schulalltag zu steuern, dirigieren oder lösen zu müssen. Er ist dann mehr genau genommen für jeden (Schüler-) Konflikt da, er muss jeder Verfehlung akribisch nachgehen, jeden Einwand zu würdigen und jede Erwartung bedienen. Kurz: Er müsste für 'alles und jedes' da zu sein, was immer auch unter seine Augen kommt. Das vielbeschworene 'besondere Engagement' mancher Lehrer mit ihren allen ihren Kehrseiten findet möglicherweise hier ihre psychologische Entsprechung.

'Gehst du gen Morgen: so werde ich gen Abend ziehen' - Einen neuen Umgang wagen
Insofern stellt sich die Frage, inwieweit ein Lehrer für das Leben seines ihm anvertrauten Schülers 'als Ganzes' im pädagogisch gedachten Sinne überhaupt verantwortlich ist. Schon die Frage, inwieweit ein Unterrichtsinhalt vom Schüler vollumfänglich erfasst worden ist, welche Bedeutung dieser für die Entwicklung des Schülers hat, wie dieser ihn umsetzt und ob der Schüler den aktuell behandelten Unterrichtsstoff überhaupt irgendwann in seinem Leben benötigt, bleibt einem Lehrer in aller Regel verborgen.
Was dabei auf den ersten Blick beinahe wie eine Entwertung der Arbeit eines Lehrers anmutet, erschafft beim genauen Hinsehen einen ganz neuen Spielraum. Denn aus dieser Perspektive wird auch deutlich, dass ein 'Lehrer-Programm', das sich für 'alles und jedes' verantwortlich denkt, einen Aufwand darstellt, der im Grunde genommen nicht nötig ist. Die Verantwortung eines Lehrers ist zwar der Lerngruppe und dem aktuellen Augenblick, keinesfalls aber dem Leben des einzelnen Schülers als Ganzes geschuldet. Kein Lehrer muss die Vielheit der Prozesse, in denen ein einzelner Schüler eingewoben ist, jemals durchdringen oder verstehen. Und was für den Unterricht gilt, gilt - genau genommen - im gleichen Maße auch für das oftmals mit großem Aufwand initiierte ‚außerunterrichtliche‘ Engagement. Auch hier weiß der Lehrer nichts darüber, inwieweit das 'Projekt' oder die 'Klassenfahrt' den einen oder anderen Schüler in seiner Entwicklung beeinflusst.
Darüber hinaus folgt aus Nietzsches psychologischem Denken, dass die Qualität des Lehrerberufes nicht auf den richtigen Handlungen beruht, sondern auf einem sinnvollen Umgang mit all jenen Prozessen, in die alle Beteiligten (z.B. einer Unterrichtsstunde) eingewoben sind. Die Voraussetzung dazu findet sich nicht in den richtigen 'pädagogischen Handlungen' sondern in einer Lehrer-Haltung, die auch das Paradoxe und Relative der eigenen Absichten und Handlungen wahrnimmt und anerkennt. Wer als Lehrer nicht über eine solche Stärke verfügt, wird möglicherweise versuchen, bereits im Vorfeld allen denkbaren Unbill von seinem Schüler fernzuhalten. Er würde sich vielleicht dahingehend engagieren, dass dem Schüler bestimmte Enttäuschungen erspart bleiben, dass dieser nicht den Mut verliert und ihn dazu anhalten, gleichsam auf dem 'rechten Weg' zu bleiben.
Dagegen würde jemand, der über eine bestimmte innere Stärke verfügt, vielleicht in einer gänzlich andern Art und Weise auftreten als in dem gerade geschilderten ersten Beispiel. Ein solcher Lehrer würde seinem Schüler sicherlich ebenfalls alle Hilfestellungen zur Verfügung stellen, die dieser benötigt. Aber er würde darum wissen, wie relativ seine Bemühungen um die Entwicklung seines Schülers sind. Und das bedeutet: Er wird seinen Schüler irgendwann alleine weiterziehen lassen, da dieser nur so jene Fähigkeiten entwickeln kann, die er später im Leben einmal brauchen wird. Eine solche Haltung bezieht dabei die Möglichkeit des Scheiterns durchaus mit ein. Aber sie erschafft für alle Beteiligten einen Spielraum, der im ersten Beispiel gänzlich fehlt. Ein Lehrer mit dieser inneren Stärke würde keinen besonderen Wert darauf legen, den Schüler in seine 'Vorstellung von Welt' mit einzubeziehen um ihn beispielsweise auf den 'rechten Pfad' zu lenken. Aber er würde sicherlich neugierig darauf schauen, in welcher Weise der Schüler mit seinen Fähigkeiten umzugehen vermag. Diese besondere Art einer mutigen Gelassenheit macht (im weitesten Sinne) eine Lehrer-Haltung aus und befreit auch von dem Beweisdruck eines 'Alles-besonders-gut-machen-müssens'.
In dem Aphorismus "Humanität der Freund- und Meisterschaft" wirbt Nietzsche für ein solche Haltung, wenn er schreibt:

"'Gehst du gen Morgen: so werde ich gen Abend ziehen' – so zu empfinden ist das hohe Merkmal von Humanität im engeren Verkehre: ohne diese Empfindung wird jede Freundschaft, jede Jünger- und Schülerschaft irgendwann einmal zur Heuchelei."10)

Was Nietzsche hier zum Ausdruck bringt zielt nicht auf die unterschiedlichen Lebenswege oder Welten, in denen Lehrer und Schüler jeweils zu Hause sind, wie man vielleicht auf den ersten Blick denken könnte. Vielmehr entwirft Nietzsche in diesem Aphorismus ein Bild über eine bestimmte Stärke oder Schwäche. Dieses Bild beschreibt nicht das Problem zweier unterschiedlicher Wege, sondern das Problem einer Haltung, die, und das ist vielleicht das Schwierige daran, in aller Breite und Konsequenz erst einmal 'nachempfunden' - also durchlebt und durchlitten - werden will. Bei einer solchen Lehrer-Haltung bleiben Lehrer und Schüler am Ende allein. Der Schüler kann diesen Freiraum nutzen und für sich fruchtbar machen – oder auch nicht. Diese Erfahrung kann (und darf!) ein Lehrer seinem Schüler nicht abnehmen.  

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1 Dieser Essay wurde in Anlehnung an das Kap. 2.6. sowie Kap. 2.6.3 meiner Dissertation verfasst.
Die Dissertation ist unter dem Link https://voado.uni-vechta.de/handle/21.11106/92 (Stand: 15.9.2018) einsehbar.