22_04
Worum es mir geht - eine Einführung
Welcher Lehrer kennt nicht die intensiven Gespräche mit Schülern oder Eltern, die langen Telefonate vom privaten Telefon aus, die zusätzlichen Arbeitsgemeinschaften und Projekte, die großzügigen Klassenfahrten oder sogar Hausbesuche?
Der Lehrer scheint von allen Seiten unter Druck zu stehen. Bei genauerem Hinsehen fällt aber auf, dass er auch jede Menge nicht genutzter Freiheiten hat. Vielleicht fehlt ein stimmiges Bild für die eigene Profession. Ein Bild, das nicht ein reines 'Privatding' ist, keine Über- oder Unterforderung bedeutet, sondern die Basis für eine Arbeit bildet, der man mit Stolz nachgeht und die eine gesellschaftliche Anerkennung findet. In Ermangelung eines solchen Bildes macht der Lehrer sich den größten Druck vielleicht selbst, weil er sich so den wildesten Forderungen und Erwartungen ausgeliefert fühlt. Kein Wunder wenn er dabei über die Jahre möglicherweise etwas sonderlich wird, zum Verwaltungsderwisch oder auch zum tragischen Opfer einer 'bösen' Klasse.
Mein Blog möchte sich mit dieser und ähnlichen Fragen beschäftigen. Und da Projekte dieser Art häufig komplexer sind als sie auf den ersten Blick erscheinen, bedarf es einer Unterstützung, die hier von einem Philosophen geleistet werden soll, dessen Philosophie eine geradezu unerschöpfliche Quelle von Bildern und Ideen über ein Denken in Paradoxien und Kehrseiten darstellt.
Gemeint ist der Philosoph Friedrich Nietzsche, der – nicht ganz zu Unrecht – von sich selber einmal behauptet hat, er sei eigentlich der erste richtige Psychologe überhaupt. Und fast hört man schon aus der Ferne einen ersten entrüsteten Einwand: Was? Nietzsche? Doch nicht der mit den Frauen und der Peitsche?
Aber gewiss! Genau der. Man darf gespannt sein.
21_11
Zum Problem der Leistungsmotivation
Ein Zauberwort in der gesamten pädagogischen Welt ist das der Motivation.
Wie diese herzustellen ist und welche Tricks einem Lehrer dabei helfen können, lernt man in den Seminaren an der Hochschule und während des Vorbereitungsdienstes für das Lehramt, dem sogenannten Referendariat.
Wer als Lehrer von Motivation spricht, meint im weitesten Sinne immer die 'Leistungsmotivation'. Dabei entsteht jedoch ein Problem, dass nur selten Beachtung findet. Denn zum einen findet eine echte 'Leistungsmotivation' in der Schule genau genommen gar nicht statt. Geht man alleine von dem Begriff aus, dann zeigt sich, dass diese selbst außerhalb der Schule im Grunde genommen nur eher selten vorkommt. Man findet sie sicherlich bei Sportlern, Musikern, in bestimmten natur- oder geisteswissenschaftlichen Einzeldisziplinen, aber nicht in einer allgemeinbildenden Schule. Und es stellt sich die Frage, inwieweit eine Leistungsmotivation überhaupt in den Rahmen einer Schule gehört, lässt doch alleine die Vielzahl der Schulfächer daran Zweifel aufkommen. Es ist wohl kaum möglich, sich in fast zehn unterschiedlichen Unterrichtsfächern gleichsam auf Höchstleitung 'trimmen'. Und schon allein aus diesem Grunde lässt sich eine Leistungsmotivation wohl kaum einfach 'herstellen', wie es uns die Pädagogik gerne Glauben machen will.
Sinnvolles Lernen gedeiht in der Schule nicht von sich aus, sondern am ehesten in einer Art "Erledigungsmodus": Strukturiert und überschaubar werden die verschiedenen Schritte bzw. (Schul-) Arbeiten 'abgearbeitet'. Für den Schüler bedeutet dies, in einem überschaubaren Rahmen ganz bestimmte Schritte zu erledigen. Und am Ende hat man (und das gilt im Grunde für jeden Menschen) etwas geschafft – eben 'erledigt'. Im Erledigungs-Modus besteht die Leistung darin, überhaupt etwas (sinnvoll) geschafft zu haben.
Dem entgegen steht eine Haltung, die vielleicht unbewusst viele Lehrer (und in eins damit auch viele Eltern) verkörpern: Sie neigen dazu, dem Schüler eine Art (Leistungs-) Motivation "abzuverlangen". Mehr noch, man fordert im Grunde eine Leistungsmotivation, die in sich grenzenlos ist.
In diesem System geht es nicht mehr darum, ob ein Schüler 'gut' ist, sondern inwieweit er sich dem Programm einer 'grenzenlosen Leistungsmotivation' unterwirft.
Das Motto eines solchen Systems lautet: Wenn es einem Schüler gelingt, sich grenzenlos zur Leistung zu motivieren, dann kann nichts schief gehen. Und umgekehrt: Geht es doch schief, nun, dann war der Schüler eben nicht bereit, sich 'grenzenlos' zu motivieren.
Gerade die einer grenzenlosen Leistungsmotivation innewohnende Beweispflicht verhindert aber ein ruhiges Sich-einlassen und genaues Hinschauen auf die gestellte Aufgabe. 'Richtiges' Arbeiten ist somit genau genommen inkompatibel mit einer Leistungsmotivation im oben genannten Sinne.
21_10
Der Lehrer als Bergführer
Versuchen wir einmal, die Arbeit eines Lehrers nach dem Bild eines 'Bergführers' zu verstehen. Dann ist der Lehrer jemand, der eine Gruppe junger Menschen durch eine Berglandschaft begleitet. Er kennt diese Landschaft, weil er bestimmte Ecken davon studiert hat (vielleicht Englisch, Biologie oder Religionswissenschaft z.B.). Die Schüler sollen am Ende 'über den Berg' kommen und dabei das eine oder andere von dieser Landschaft erfahren. Ziel ist es dabei nicht, besonders tolle Leistungen zu erbringen. Ein Coachen auf Höchstleistungen von Einzelnen auf besondere Kenntnisse wie z.B. in der Pflanzen- oder Vogelkunde ist nicht das Ziel eines Bergführers und sollte auch nicht richtungsweisend sein für das Aufgabenverständnis eines Lehrers. Im Vordergrund steht das Herstellen von Erfahrungen in einer interessanten Landschaft, und das gemeinsame und mit Gewinn 'Über-den-Berg-kommen' einer ganzen Gruppe. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass der Bergführer hier und da mal etwas 'Nachhilfe' leisten muss, ein Pflaster aufklebt oder jemanden ermutigt, sich auf seine eigenen Kräfte zu besinnen, um weitergehen zu können.
Grundsätzlich aber gilt für eine Bergwanderung, dass jeder Teilnehmer bestimmte physische und psychische Voraussetzungen erfüllen muss. Bringt ein Teilnehmer bestimmte Voraussetzungen nicht mit – etwa das längere Ausschreiten an einem steilen Hang – kann und muss der Bergführer diesen Teilnehmer im Sinne der Gruppe von der Wanderung ausschließen (oder ihm einen speziellen Kurs empfehlen bzw. zuweisen, in dem diese Grundvoraussetzungen nachgelernt werden können).
Das Bild des Bergführers beinhaltet auch, dass der 'Berg-Lehrer' für den einzelnen Schüler nicht ständig oder nach Bedarf verfügbar ist – auch wenn genau dies häufig von Eltern wie auch Schülern erwartet wird. Ein Bergführer muss, will er seiner Aufgabe gerecht werden, eine Haltung entwickeln, die den Berg-Teilnehmern intuitiv und nachvollziehbar bestimmte Grenzen setzt. Ein Lehrer, der beispielsweise das Signal aussendet, er sei immer und umfassend für jeden einzelnen 'persönlich' da, nimmt dem einzelnen Schüler die Chance, sich selber auf sein eigenes Leben hin zu entwickeln. Die besondere Berglandschaft und die 'Gesetze des Berges' kennt der Gruppenteilnehmer oder, im übertragenen Sinne, der Schüler nicht.
Er ist auf seine eigenen Vorerfahrungen angewiesen und muss unter der Anleitung des Bergführers und im Verbund mit den anderen sich ein eigenes Bild davon erarbeiten. Das kann ihm der Bergführer nicht abnehmen – so, wie es auch der Lehrer dem Schüler nicht abnehmen kann, sich seine eigene Landschaft zu erlaufen. Ein falsch verstandenes oder überzogenes Engagement eines Lehrers würde ein falsches Signal sein. Und das gilt auch und besonders für die Eltern, die zu den Lehrern ihrer Kinder (aus Not und Unsicherheit) oftmals genau so 'unersättlich' sind wie die Schüler selber.
Ein Lehrer, der nicht in der Lage ist, an den richtigen Stellen die richtigen Grenzen zu setzen, wird auf Grund von diesen unausgesprochenen Erwartungen sehr schnell erpressbar, da es bei ihm ja keine klar erkennbaren Grenzen gibt. Lehrer müssten im Grunde von Beginn an (zum Beispiel in kleinen Gruppen) lernen, was es bedeutet, eine Bergführer-Haltung zu entwickeln. Eine solche neu verstandene Haltung würde dann auch den Bedürfnissen der Lehrer selber gerecht werden. Denn genau die bleiben bei einer falsch verstandenen Haltung oftmals auf der Strecke – und verirren sich nicht selten am Ende in eine Art ständiger 'Verbiesterung' (burn-out) gegenüber allem, was die Schule, den Unterricht und Schüler betrifft.
21_09
Handlung statt Haltung - ein Missverständnis pädagogischen Denkens
Und das ist es auch, was mich psychologisch an dem Beruf des Lehrers interessiert. In meiner Dissertation bin ich dieser Fragestellung ebenfalls nachgegangen. Den dort entwickelten Gedankengang möchte ich hier in unserem Themenrahmen gerne in einer Kurzversion (Abstract) vorstellen.
Abstract
Die vorliegende Arbeit1) geht davon aus, dass für die Ausübung des Lehrerberufes eine Haltung sinnvoll ist, die ein Lehrerhandeln wie ein Ganzes in sich zusammenhält und dabei den vielschichtigen Herausforderungen des Berufes gerecht wird.
Eine Lehrer-Haltung soll sich abheben von dem vorherrschenden Modell einer so genannten Professionalität, welche allein auf Fertigkeiten gegründet ist. In der Theorie des impliziten Wissens (Neuweg, Polanyi) wird eine erste Umsetzung dieser Idee gesehen und vorgestellt. Darin wird der 'Experte' oder 'Könner' favorisiert. Nach diesem Modell ist das Handeln an der Sachlage ausgerichtet und von intuitiver Natur. Das 'Wissen' des Lehrers erweist sich hier gleichsam erst im Tun selbst. Dieses Modell beinhaltet jedoch zwei Probleme. So fehlt dem Konzept des impliziten Wissens die Fähigkeit der Selbstreflexion. Implizites Wissen, das sich im Lebensprozess entwickelt hat, kann nämlich auch in implizite Blindheit umschlagen.
Gegen diese Gefahr einer sich verfestigenden Lehrer-Haltung wird als ergänzende Möglichkeit einer Selbstreflexion das philosophische Denken Nietzsches empfohlen. Nietzsches aphoristisches Denken und die besondere Berücksichtigung der Kehrseiten menschlichen Handelns können dazu ermutigen, sich von einem Denken in Systemen zu lösen und einen freien Umgang mit den Paradoxien und Widersprüchen des Alltags zu wagen. Ein zweites Problem besteht darin, dass die Theorie des impliziten Wissens nur eine grobe Übertragung ihrer Prinzipien auf den komplexen Schulalltag zulässt (erschwerte Übertragbarkeit).
Deshalb wird im Schlussteil dieser Arbeit das Denken einer bildanalytischen Psychologie und Entwicklungstherapie (Mikus) vorgestellt und als Werkzeug für die Einschätzungen und Gestaltung des schulischen Alltags empfohlen. Die ordnungsstiftenden Prinzipien eines bildanalytischen Denkens wirken nicht wie formalisierende Systeme, sondern wie die 'übergreifenden Bilder' der jeweiligen Zusammenhänge selbst. Das führt zu einer Haltung eines kreativen Sich-zurechtfindens in immer neuen Zwischenwelten, die an die jeweiligen Verhältnisse angepasst sind. Eine solche Haltung beruht nicht auf vorab gelernten Fertigkeiten oder einfacher Intuition, sondern auf der erworbenen Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge bildhaft wahrnehmen und mit ihnen angemessen umgehen zu können.
1) Bei dem angführten Text handelt es sich um das Abstract meiner Dissertation mit dem Titel "Auf der Suche nach einer Haltung". Die Arbeit findet sich auf dem Server der Universität Vechta und ist einsehbar unter der Adresse https://voado.uni-vechta.de/handle/21.11106/92 (Stand: 4.3.2018)
20_09
Ein bisschen Philosophie gefällig?
Nietzsches Vorstellung vom Individuum
Nietzsches Vorstellung vom Individuum
Die in den westlichen Gesellschaften breit angelegte Wertschätzung des
Individuums teilte der Philosoph Friedrich Nietzsche nicht. Die Vorstellung,
dass der Mensch als ein freies und eigenständiges Subjekt denkt und handelt, wird
von Nietzsche kritisch gesehen. So ungewöhnlich und geradezu provokant
Nietzsches Psychologie dem heutigen (post-) modernen Menschen immer auch (noch)
erscheinen mag: Für das Verstehen des Begriffs einer 'Lehrer-Haltung' ist die
Psychologie Nietzsches schon deswegen von wesentlicher Bedeutung, da sich sein
psychologisch-pädagogischer Blick eben nicht, wie in der heutigen Pädagogik noch
allgemein üblich, allein auf das Individuum fixiert.
Im Folgenden möchte ich dazu den philosophische Hintergrund von Nietzsches 'Subjektkritik' in groben Zügen darstellen und im Anschluss daran auf einige mögliche Folgerungen für das pädagogische Denken aufmerksam machen.
Die Illusion vom freien Willen, oder: Der Subjektbegriff als Konstruktion des Denkens1)
Nietzsche verwendet Begriffe wie Subjekt, Ich, Individuum, oder Person (seltener auch 'Seele') in einem sehr weiten Sinne und oftmals synonym. Allerdings unterscheidet Nietzsche sehr genau zwischen dem Subjekt und dem Subjektgefühl. Was sich uns Menschen als freier und einheitlicher Wille darstellt, ist Nietzsche zufolge kein einheitliches Wesen, sondern das Ergebnis eines Kampfes höchst unterschiedlicher Kräfte und Triebe. Einen Menschen als ‚Individuum‘, als eine 'unteilbare Einheit', gibt es bei Nietzsche nicht. Vielmehr sieht Nietzsche das Subjekt selber in einer Reihe mit dem Willen oder dem Bewusstsein. Jede dieser Kategorien umfasst eine Vielzahl an Strömungen und Prozessen, die mit- und untereinander in einem beständigen im Kampf liegen.
Von diesen spannungsgeladenen Prozessen erfahren wir als Menschen in der Regel nur wenig. Nietzsche vermutet, dass der Mensch die Intensität dieser Kräfte wie "wie Nähe und Ferne" erlebt und sich dabei als "eine Landschaft" auslegt, was in Wahrheit eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Strömungen und Kräfte beinhaltet. Das Ergebnis dieser verborgenen Trieb- und Kräftemechanik wird vom Menschen schließlich als eine dem eigenen Wollen entsprungene Entscheidung interpretiert.
Mit dieser Erkenntnis rüttelt Nietzsche an einer gängigen Vorstellung eines vom Ich ausgehenden freien Denkens und Wollens. Descartes berühmtes 'Cogito ergo sum' ('Ich denke, also bin ich') beruht Nietzsche zufolge auf einem Irrtum, setzt doch Descartes hier voraus, "daß, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, 'das denkt'…".
Eine solche Konstruktion ist nach Nietzsche eine Fiktion, da hier vorausgesetzt wird, dass hinter dem Denken ein Instanz existiert, die diesen Denkprozess initiiert und steuert. Aber steuert der Mensch seine Gedanken tatsächlich selber? Oder verhält es nicht vielmehr so, dass er für sich genommen gar nicht selber denkt, sondern dessen Gedanken in weiten Teilen ein Eigenleben führen, ohne dass man als Mensch selber einen direkten Einfluss darauf hat? "'Es wird gedacht: folglich giebt es Denkendes': darauf läuft die argumentatio des Cartesius hinaus. Aber das heißt, unsern Glauben an den Substanzbegriff schon als 'wahr a priori' ansetzen…"
Es gibt keinen Blitz der leuchtet
Mit diesen ‚Glauben an den Substanzbegriff‘ lenkt Nietzsche dem Blick auf die vermutlich gängige Meinung, dass sich hinter jedem Tun grundsätzlich einen Täter verbirgt, der dieses Tun steuert.
Sagt jemand beispielsweise, dieser oder jener 'Fluss fließe sehr schnell', dann impliziert seine Aussage auch ungewollt das Bild, als ob hinter dem Fließen noch einen Täter (nämlich der 'Fluss') existiere, der sich gleichsam für ein 'schnelleres Fließen' entschieden hat und dieses Fließen vorantreibt.
Eine solche Instanz aber existiert nicht, sondern wurde der menschlichen Grammatik hinzu erdichtet. Ähnlich verhält es sich mit einem Blitz, der leuchtet. Auch hier wird eine Instanz im Hintergrund angenommen, die das Leuchten steuert. "Wenn ich sage 'der Blitz leuchtet', so habe ich das Leuchten einmal als Thätigkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponirt, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr bleibt, ist und nicht wird." Es existiert weder hinter dem Fließen noch hinter dem Leuchten eine höhere Instanz, die dieses 'Tun' in irgendeiner Weise bewirkt oder steuert. Es gibt kein Sein hinter dem Tun. Goethe drückte es einmal ähnlich aus, wenn er meinte: "Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre".
Der Mensch als Nicht-Individuum
Ähnlich verhält es sich nach Nietzsche mit den Denkprozessen des Menschen. Wenn es heißt, der Mensch denke, dann lenkt eine solche Formulierung den Blick auf ein freies und unabhängiges Subjekt, dass sich hinter dem Denken diese Gedanken gleichsam steuert. Eine solche Konstruktion aber gehört Nietzsche zufolge in das Reich der Fiktion. Es gibt Nietzsche zufolge auf das Ganze gesehen kein unmittelbares 'Ich denke'. Es existiert lediglich ein 'Denken'.
Ein Subjekt, das annimmt, der individuelle und unabhängige Initiator seiner Gedanken zu sein konstruiert eine Wirklichkeit, die es nicht gibt. Schon die Annahme des Menschen, sich selbst zu kennen, ist nach Nietzsche ein grober Fehlschluss und führt dazu, dass sich der Mensch größer macht, als er in Wirklichkeit ist.
"Der größte Theil unseres Wesens", so Nietzsche, "ist uns unbekannt. Trotzdem lieben wir uns, reden als von etwas ganz Bekanntem, auf Grund von ein wenig Gedächtnis. Wir haben ein Phantom vom 'Ich' im Kopfe, das uns vielfach bestimmt."
Genau genommen 'kleben' wir immer ein wenig (oder ein wenig mehr) an unserer eigenen Ich-Vorstellung und verteidigen diese, wo immer wir auf eine mögliche Infragestellung treffen. Dieses 'Kleben am eigenen Ich' aber führt schließlich auch dazu, dass sich der einzelne nicht nur als ausschließlicher Verursacher seiner Gedanken und Absichten erlebt, sondern darüber hinaus auch alle jene Strömungen konsequent ausspart, in denen er - ohne es zu merken - ebenfalls eingebunden ist und die jeden Augenblick aufs Neue bereichern und zu neuen Spielräumen führen könnten.
"Es ist der Glaube an das (...) Denkende als das einzig Wirkende – an den Willen, die Absicht – daß alles Geschehn ein Thun sei, daß alles Thun einen Thäter voraussetze". Nietzsche geht davon aus, dass die gesamte menschliche Denkstruktur von diesem Täter-Tun-Prinzip durchwoben ist. Der Glaube an das Subjekt als wirkendes Wesen aber führt am Ende auch zu dem Trugschluss, der Initiator und Steuerer aller Prozesse an sich zu sein.
Schule in einer Welt des Werdens
Nietzsches Philosophie beruht auf einem Weltbild, in dem die Existenz des Individuums mit einer gängigen Vorstellung von Individualität oder individueller Freiheit wenig zu tun hat. Weder die Träume, noch die eigenen Gedanken, noch die eigenen Gefühle sind unmittelbar von einem Ich bewirkt, sondern entstehen nach ihrer eigenen Logik. Sie sind nicht kontrollierbar und führen unter den Bedingungen der menschlichen Existenz eine Art Eigenleben. Das Subjekt selber stellt gleichsam nur die Bühne dar, auf der die spannungsgeladenen Kämpfe zur Aufführung gebracht werden. Nietzsche macht darauf aufmerksam, dass es nicht das Subjekt ist, das denkt, sondern dass das Denken so etwas wie ein Subjektgefühl überhaupt erst erschafft. Den Gedanken einer wirklichen 'individuellen Freiheit', wie sie von den meisten Menschen gedacht wird, lehnt Nietzsche ab.
Für den Lehrberuf könnte dies bedeuten, die Absichten und Wirkungen eines Lehrers in einem bestimmten Maße zu relativieren. Wenn ein Ich als unteilbare Einheit 'an sich' nicht existiert, sondern nur eine Vielzahl von Strömungen und Prozessen, dann ist auch jede pädagogische Absicht eines Lehrers nicht die Ursache oder der Beginn einer neuen Handlung, sondern bereits Teil eines Prozesses, in dem die Person des Lehrer mit eingebunden ist. Eine pädagogische Handlung kann aus dieser Perspektive nicht als Anstoß zu einem neuen Handlungsprozess verstanden werden, da sie immer auch bereits Ergebnis eines anderen Prozesses ist. Bereits die innere Absicht eines Lehrers zu einer neuen Handlung ist nicht allein der Beginn, sondern immer zugleich auch Folge anderer Prozesse.
Versteht ein Lehrer seine eigenen Absichten und sein Denken allein als Ausgangspunkt seines Wirkens, überhöht er nicht nur sich und seine Wollen über das Maß hinaus, sondern sieht sich als Initiator aller weiteren Prozesse, für deren erfolgreichen Verlauf nur er selbst verantwortlich ist. Er ist dann auch gleichsam verpflichtet, den gesamten Schulalltag zu steuern, dirigieren oder lösen zu müssen. Er ist dann mehr genau genommen für jeden (Schüler-) Konflikt da, er muss jeder Verfehlung akribisch nachgehen, jeden Einwand zu würdigen und jede Erwartung bedienen. Kurz: Er müsste für 'alles und jedes' da zu sein, was immer auch unter seine Augen kommt. Das vielbeschworene 'besondere Engagement' mancher Lehrer mit ihren allen ihren Kehrseiten findet möglicherweise hier ihre psychologische Entsprechung.
'Gehst du gen Morgen: so werde ich gen Abend ziehen' - Einen neuen Umgang wagen
Insofern stellt sich die Frage, inwieweit ein Lehrer für das Leben seines ihm anvertrauten Schülers 'als Ganzes' im pädagogisch gedachten Sinne überhaupt verantwortlich ist. Schon die Frage, inwieweit ein Unterrichtsinhalt vom Schüler vollumfänglich erfasst worden ist, welche Bedeutung dieser für die Entwicklung des Schülers hat, wie dieser ihn umsetzt und ob der Schüler den aktuell behandelten Unterrichtsstoff überhaupt irgendwann in seinem Leben benötigt, bleibt einem Lehrer in aller Regel verborgen.
Was dabei auf den ersten Blick beinahe wie eine Entwertung der Arbeit eines Lehrers anmutet, erschafft beim genauen Hinsehen einen ganz neuen Spielraum. Denn aus dieser Perspektive wird auch deutlich, dass ein 'Lehrer-Programm', das sich für 'alles und jedes' verantwortlich denkt, einen Aufwand darstellt, der im Grunde genommen nicht nötig ist. Die Verantwortung eines Lehrers ist zwar der Lerngruppe und dem aktuellen Augenblick, keinesfalls aber dem Leben des einzelnen Schülers als Ganzes geschuldet. Kein Lehrer muss die Vielheit der Prozesse, in denen ein einzelner Schüler eingewoben ist, jemals durchdringen oder verstehen. Und was für den Unterricht gilt, gilt - genau genommen - im gleichen Maße auch für das oftmals mit großem Aufwand initiierte ‚außerunterrichtliche‘ Engagement. Auch hier weiß der Lehrer nichts darüber, inwieweit das 'Projekt' oder die 'Klassenfahrt' den einen oder anderen Schüler in seiner Entwicklung beeinflusst.
Darüber hinaus folgt aus Nietzsches psychologischem Denken, dass die Qualität des Lehrerberufes nicht auf den richtigen Handlungen beruht, sondern auf einem sinnvollen Umgang mit all jenen Prozessen, in die alle Beteiligten (z.B. einer Unterrichtsstunde) eingewoben sind. Die Voraussetzung dazu findet sich nicht in den richtigen 'pädagogischen Handlungen' sondern in einer Lehrer-Haltung, die auch das Paradoxe und Relative der eigenen Absichten und Handlungen wahrnimmt und anerkennt.
Wer als Lehrer nicht über eine solche Stärke verfügt, wird möglicherweise versuchen, bereits im Vorfeld allen denkbaren Unbill von seinem Schüler fernzuhalten. Er würde sich vielleicht dahingehend engagieren, dass dem Schüler bestimmte Enttäuschungen erspart bleiben, dass dieser nicht den Mut verliert und ihn dazu anhalten, gleichsam auf dem 'rechten Weg' zu bleiben.
Dagegen würde jemand, der über eine bestimmte innere Stärke verfügt, vielleicht in einer gänzlich andern Art und Weise auftreten als in dem gerade geschilderten ersten Beispiel. Ein solcher Lehrer würde seinem Schüler sicherlich ebenfalls alle Hilfestellungen zur Verfügung stellen, die dieser benötigt. Aber er würde darum wissen, wie relativ seine Bemühungen um die Entwicklung seines Schülers sind. Und das bedeutet: Er wird seinen Schüler irgendwann alleine weiterziehen lassen, da dieser nur so jene Fähigkeiten entwickeln kann, die er später im Leben einmal brauchen wird.
Eine solche Haltung bezieht dabei die Möglichkeit des Scheiterns durchaus mit ein. Aber sie erschafft für alle Beteiligten einen Spielraum, der im ersten Beispiel gänzlich fehlt. Ein Lehrer mit dieser inneren Stärke würde keinen besonderen Wert darauf legen, den Schüler in seine 'Vorstellung von Welt' mit einzubeziehen um ihn beispielsweise auf den 'rechten Pfad' zu lenken. Aber er würde sicherlich neugierig darauf schauen, in welcher Weise der Schüler mit seinen Fähigkeiten umzugehen vermag.
Diese besondere Art einer mutigen Gelassenheit macht (im weitesten Sinne) eine Lehrer-Haltung aus und befreit auch von dem Beweisdruck eines 'Alles-besonders-gut-machen-müssens'.
In dem Aphorismus "Humanität der Freund- und Meisterschaft" wirbt Nietzsche für ein solche Haltung, wenn er schreibt:
"'Gehst du gen Morgen: so werde ich gen Abend ziehen' – so zu empfinden ist das hohe Merkmal von Humanität im engeren Verkehre: ohne diese Empfindung wird jede Freundschaft, jede Jünger- und Schülerschaft irgendwann einmal zur Heuchelei."10)
Was Nietzsche hier zum Ausdruck bringt zielt nicht auf die unterschiedlichen Lebenswege oder Welten, in denen Lehrer und Schüler jeweils zu Hause sind, wie man vielleicht auf den ersten Blick denken könnte. Vielmehr entwirft Nietzsche in diesem Aphorismus ein Bild über eine bestimmte Stärke oder Schwäche. Dieses Bild beschreibt nicht das Problem zweier unterschiedlicher Wege, sondern das Problem einer Haltung, die, und das ist vielleicht das Schwierige daran, in aller Breite und Konsequenz erst einmal 'nachempfunden' - also durchlebt und durchlitten - werden will.
Bei einer solchen Lehrer-Haltung bleiben Lehrer und Schüler am Ende allein. Der Schüler kann diesen Freiraum nutzen und für sich fruchtbar machen – oder auch nicht. Diese Erfahrung kann (und darf!) ein Lehrer seinem Schüler nicht abnehmen.
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Die Dissertation ist unter dem Link
https://voado.uni-vechta.de/handle/21.11106/92
(Stand: 15.9.2018) einsehbar.
20_01
Erzieher als Rattenfänger - Ein Unkraut-Artikel
Einer der ersten Artikel der neuen Online-Zeitschrift "Unkraut" beschäftigt sich mit dem Erzieher als einen "Rattenfänger" in einer Kita-Gruppe.
Und sicherlich stellt sich nicht nur Eltern oder Erziehern die Frage: Ein Erzieher als Rattenfänger?
Gewiss: Im "Korsett" moral-pädagogischen Denkens hat ein solches Bild nichts zu suchen. Wer aber auf der Suche nach Sinn-Zusammenhängen ist, kann in dem Bild des Rattenfängers von Hameln durchaus das ein oder andere entdecken, insbesondere was für Lehrer- oder Erzieher-Haltung mehr als nur sinnvoll sein kann.
➔ Hier gehts zum Artikel
Den Paradoxien im Schulalltag auf der Spur…
Ein kollegiales Weiterdenken für Lehrerinnen und Lehrer
Beruflich wie auch privat sind wir eingebettet in eine Welt unzähliger Paradoxien. Sie sind gleichsam das Urgestein der Wirklichkeit und verführen uns nicht selten zu Handlungen, die am Ende das Gegenteil dessen erreichen, was ursprünglich angestrebt wurde.
Zugleich aber beinhaltet der richtige oder besser 'sinnvolle' Umgang mit diesen Paradoxien auch einen lohnenswerten Reichtum. Die Voraussetzung dazu ist eine Haltung, die sich auf die Kehrseiten seelischen Erlebens einlassen kann und dabei die Fähigkeit entwickelt, wahrzunehmen, in welche Prozesse wir als Lehrer 'auch' eingebunden sind.
Bekanntlich lernen Lehrer ihren Beruf nicht während des Studiums oder während des Vorbereitungsdienstes (Referendariat), sondern in den ersten Jahren des beruflichen Alltags selber. Einmal dort angekommen, sehen sie sich als Berufseinsteiger jedoch nicht selten Problemen gegenüber, für die sie in ihrer Ausbildung 'irgendwie' nicht oder nicht genügend ausgerüstet wurden.
"Auf der Suche nach einer Haltung" versteht sich als eine offene Seminarreihe, die sich diesen Problemen stellt um neue und fruchtbare Perspektiven im Umgang mit diesen zu entwickeln. Es richtet sich an Lehrerinnen und Lehrer und wird von der 'Arbeitsgemeinschaft Bildanalytische Forschung' unterstützt.
19_11
Vorsicht - Aphorismus!
„Gesetzt, man denkt sich einen Philosophen als großen Erzieher, mächtig genug, um von einsamer Höhe herab lange Ketten von Geschlechtern zu sich hinaufzuziehen: so muß man ihm auch die unheimlichen Vorrechte des großen Erziehers zugestehen.
Ein Erzieher sagt nie, was er selber denkt sondern immer nur, was er im Verhältniß zum Nutzen Dessen, den er erzieht, über eine Sache denkt. In dieser Verstellung darf er nicht errathen werden; es gehört zu seiner Meisterschaft, daß man an seine Ehrlichkeit glaubt.
Er muß aller Mittel der Zucht und Züchtigung fähig sein: manche Naturen bringt er nur durch Peitschenschläge des Hohns vorwärts, Andere, Träge, Unschlüssige, Feige, Eitle, vielleicht mit übertreibendem Lobe.
Ein solcher Erzieher ist jenseits von Gut und Böse; aber Niemand darf es wissen.“
(Friedrich Nietzsche, Nachlass 1884-1885 in: KSA XI, 580)
Vom Pathos der Vornehmheit
Im Pathos der Distanz
In einem seiner letzten Bücher
2)
beschäftigt sich Nietzsche mit der Vornehmheit und widmet ihr dabei einen
ganzen Katalog perspektivischer Eigenschaften. Sein grundlegendes Resümee
lautet dabei: „Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich. –“ Nietzsche
zufolge entstehen Werte und Forderungen für den vornehmen Menschen aus
einem inneren Reichtum, die ihn von der Meinung anderer zu einem großen
Teil unabhängig macht:
„Die vornehme Art Mensch fühlt sich als werthbestimmend, sie hat nicht
nöthig, sich gutheissen zu lassen, sie urtheilt 'was mir schädlich ist
das ist an sich schädlich', sie weiß sich als Das, was überhaupt erst
Ehre den Dingen verleiht, sie ist wertheschaffend.“
Der 'vornehme' oder auch 'starke' Mensch ist Nietzsche zufolge jemand, der
sich den Dingen stellt, ohne sofort eine Lösung anbieten zu müssen, der es
wagt, sich dem schlechten Willen Anderer auszusetzen.
Der vornehme Mensch glaubt seinen eigenen Gesetzen. Er ist nicht darauf
angewiesen, auf jeden Reiz wie automatisch zu reagieren. Gleichgültig
woher der Reiz kommt oder von wem der Reiz ausgeht, der Starke reagiert
auf fremde Reize mit Gelassenheit, er
„prüft den Reiz, der herankommt, er ist fern davon, ihm
entgegenzugehen.“
Der Vornehme lehnt es ab, mit den Wünschen anderer zu verschmelzen. Er
bedient nicht die unausgesprochenen Erwartungen anderer, um
eine möglichst gute Meinung über sich zu erwirken. Nietzsche beschreibt
diese Form von Vornehmheit mit dem Begriff ‚Pathos der Distanz‘.
Im Pathos der Distanz erhebt sich der Vornehme und Starke zu sich selbst,
er setzt seine Werte, ohne sich des Rückhaltes der Gemeinschaft zu
versichern. Ziel des Vornehmen ist es, aus
„sich eine ganze Person [zu] machen und in Allem, was man thut, deren
höchstes Wohl in’s Auge [zu] fassen".
In einem solchen Denken ist es eine Pflicht, sich zuallererst einmal für
das eigene Notwendige im Leben einzusetzen und dieses auch für sich
einzufordern.
Dabei wird deutlich, dass es hierzu auch ein gewisses Maß an Stärke und
Mut bedarf.
Die Sklaven-Haltung oder: Was sind 'schmale Seelen'?
Gegen diese Form von gelebter Vornehmheit und innerer Stärke stellt
Nietzsche die "Sklaven-Haltung" der Schwachen. Die Schwachen, so
Nietzsche, versammeln sich „unter dem Schutz täuschender moralischer
Etikette“ zu einer Herdentiermoral, aus der keiner herausragt und die
jeden Zusammenhang zwischen Erkennen und persönlichem Interesse insofern
zunichtemacht, als sie ihre alle gleichschaltende Herdenmoral zum obersten
Prinzip erhebt. Diese Menschen sind nicht fähig, nach ihren eigenen
Gesetzen zu leben, und erfahren ihre Identität, ihre Werte und
Wertsetzungen ausschließlich über die Herde.
„Seid ihr zu schwach, euch selber Gesetze zu geben“, schreibt Nietzsche
zynisch, „so soll ein Tyrann auf euch sein Joch legen und sagen:
‚gehorcht, knirscht und gehorcht‘ – und alles Gute und Böse soll im
Gehorsam gegen ihn ertrinken.“
Echte Entwicklungen beginnen in der Regel immer 'irgendwie' heimlich,
sie sind kaum denkbar ohne Regelbruch, ohne eine Sünde gegen eine
(vor-)herrschende Moral.
"Das gute Gewissen", schreibt Nietzsche in ‚Menschliches
Allzumenschliches‘,
"hat als Vorstufe das böse Gewissen – nicht als Gegensatz: denn alles
Gute ist einmal neu, folglich ungewohnt, wider die Sitte, unsittlich
gewesen und nagte im Herzen (…) wie ein Wurm."
Gut und Böse sind bei Nietzsche nicht so sehr Gegensätze, sondern stehen
vielmehr für die beiden Enden des gleichen Seiles. Wer sich nicht traut,
sich auf diesem Seil zu bewegen, wer sich nicht zu seinem eigenen Wollen
bekennen und überwinden kann (weil er es unter Umständen auch gar nicht
kennt), wer sich nicht als Person irgendwann selber 'wagt' - der
verbleibt Nietzsche zufolge in seiner Entwicklung immer auf der
gleichen Stufe und verkümmert dort zu einer "schmalen Seele“. So ist es
auch kein Wunder, dass Nietzsche an anderer Stelle ausruft:
"Schmale Seelen sind mir verhasst; / Da steht nichts Gutes, nichts
Böses fast."
Schmale Seelen, das sind alle jene 'Schwachen', die sich im
Spannungsfeld von Gut und Böse für die ‚saubere‘ Seite des Lebens
entschieden haben und ihre individuellen Wünsche und Regungen einer
herrschenden Moral opfern.
Im Korsett moralischer Vorgaben aber verkehren sich unter dem Druck der
Herde alle Wertsetzungen nicht selten in ihr Gegenteil. Wer
beispielsweise darauf bedacht ist, seinen Mitmenschen gegenüber im
weitesten Sinne „gut“ oder „freundlich“ zu begegnen, kann das aus einer
Stärke, aber auch aus einer Schwäche heraus machen. Ein
„Gut-sein-wollen“ aus Schwäche ist aber keine echte Freundlichkeit,
sondern beinhaltet als Grundmotive wohl eher ein Konglomerat aus
Sich-nicht-trauen und Unsicherheit, die am Ende eine echte Zugewandtheit
eher verhindern als zulassen. Schon an diesem einfachen Beispiel zeigt
sich, wie sehr eine "Haltung" für eine Situation bestimmtend sein kann.
Die getätigten Handlungen (auch die 'pädagogischen'!) sind bestenfalls
Hinweise auf eine bestimmte Haltung. Für die Qualität und Atmosphäre
einer Situation sind eher von zweitrangiger Natur.
Im „Pathos der Distanz“ entbindet sich der Vornehme gleichsam von sich
selbst und seiner Herdenbindung. Er erschafft sich einen Spielraum, in
dem auch die eigenen egoistischen Züge und Schwächen nicht verschämt
verschleiern muss, sondern diese "ohne ein Gefühl von Härte Zwang" wie
ein "Urgesetz der Dinge" anzuerkennen vermag. So kann der Vornehme auch
noch aus seine Schwächen einen 'Gewinn' erzielen, indem seine (Wert-)
Setzungen in entscheidenden Momenten nicht von seinen Schwächen
mitbestimmen lässt. Da er die Begründung für seine Entscheidungen nicht
zwanghaft hinter einem ablenkenden Gehabe (zum Beispiel wegen einer
Kränkung) oder einem 'Wust' moralischer Begründungen verstecken muss,
wird sein Handeln von einer Art Mut und Gelassenheit getragen, die
nachvollziehbar ist und in gewisser Weise auchsogar neugierig machen kann.
Pädagogischer Übersetzungsversuch
Inwieweit können solche Gedanken auch für die Arbeit als Lehrer
relevant sein? Welche Möglichkeiten bieten sich an, eine solche Form von
exklusiver Vornehmheits-Haltung auch für den Alltag in einer Schule umzusetzen?
Denkt man das von Nietzsche vorgestellte Pathos der Distanz zu Ende,
dann erschafft dies einen Lehrer, der in dem alltäglichen Wirrwarr einer
Schule seinem Handeln eine neue Struktur unterlegt.
Die 'vornehme Art Mensch' achtet immer mit einem 'zweiten Auge' darauf,
wo sich Spielräume anbieten die es ermöglichen, auch die kleinen und
größeren Erpressungsversuchen der Schüler für sich zu nutzen und z.B.
für den Unterricht fruchtbar zu machen. Im Pathos der Distanz wird ein
Lehrer für seinen Schüler weniger 'berechenbar', weil sich seine
Reaktionen nicht an dem 'Spiel' der Schüler ausrichtet, sondern immer
auch die eigenen Spielregeln mit ins Spiel bringt. Dabei kann sich
gerade vor dem Hintergrund einer solchen 'Distanz' zwischen allen
Beteiligten ein Verhältnis entwickeln, das genau genommen die Grundlage
für eine neue Form echter Nähe bilden kann. Denn das 'Pathos der
Distanz' sichert nicht nur den Spielraum eines Lehrers, sondern bietet
zugleich auch einen verlässlichen Rahmen, in dem nicht nach vorschnellen
und abkürzenden Lösungen gesucht oder über moralisierende Forderungen
diskutiert werden muss, sondern die wesentlichen(!) Bedürfnisse des
Unterrichts und aller Beteiligten ernst genommen werden.
Die Schüler wiederum könnten von der Haltung des Lehrers lernen, dass
Stärke nicht zwingend in moralisierenden Forderungen ihren Ausdruck
findet, sondern in einer Gelassenheit, die aber dennoch ohne Abstriche
(und punktgenau!) von den Schülern das verlangt, was diese zu leisten im
Stande sind: Hierbei geht es nicht, um den Beweis von einer
überbordernden Leistungsmotivation (s.u. „Zum Problem der
Leistungsmotivation“), sondern um das (genaue) Erledigen und Abarbeiten
einer überschaubaren Aufgabe oder das Verstehen bestimmter
Zusammenhänge. Ein Pathos der Distanz erschafft in dem Hin und Her des
Schulalltags eine sinnvolle und tragfähige Strukturierung, die auch
jenem 'Film'noch Rechnung trägt, der hinter oder neben den Kulissen des
offiziellen Unterrichts immer mitläuft und den Unterricht wesentlich
mitbestimmt.
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Die Dissertation ist unter dem Link
https://voado.uni-vechta.de/handle/21.11106/92
(Stand: 15.9.2018) einsehbar.
2 Jenseits von Gut
und Böse.